Dieser Beitrag versucht bestehende Theoriefragmente und Konzepte zu erweitern und für die Gestaltungspraxis, Forschung und Kunstpädagogik nutzbar zu machen. Das Ergebnis ist eine ganzheitliche und skalierbare Gestaltungsfrage mit elf W-Fragepronomen. Wer weiss, vielleicht finden wir damit die Antwort auf die ultimativen Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest.
Woher kommen wir?
Angeregt durch wiederholte Mündigkeitsannocen aus älteren Kulturepochen haben uns im letzten Jahrhundert neue Konzepte aus Gestaltung, Forschung und Pädagogik motiviert, über Kommunikation und Gestaltung nachzudenken. Insbesondere in den Bereichen Linguistik, Kunstgeschichte, Philosophie, Kulturwissenschaft, Soziologie, Mathematik und Systemtheorie, einschliesslich Kybernetik, haben Persönlichkeiten wie De Saussure, Peirce, Warburg, Lasswell, Shannon, Barthes, Wiener, Glasersfeld, McLuhan, Haraway, Eco oder auch Sturtevant und andere dazu beigetragen, ein Bewusstsein zu einem mündigen Selbstverständnis zu schaffen. Diese Beiträge sind heute umso relevanter, wenn man die zunehmende Anzahl von extrinsischen Reizen bedenkt, denen wir von der frühen Kindheit an oft durch autoritär oder ökonomisch motivierte Berechnungen ausgesetzt sind.
Historische Konzepte und Modelle unterstützen uns als Lehrende und Lernende in der humanistischen Bildung, indem sie die persönliche Entwicklung, das kritische Denken, die soziale Verantwortung und die mündige Kulturteilhabe fördern. Allerdings sind diese Konzepte und Beiträge oft spezifisch, fragmentiert, selten ganzheitlich konzipiert und teilweise veraltet, was sie für die aktuellen pädagogischen Anliegen schwierig macht. Sie konzentrieren sich häufig auf einzelne Aspekte wie die Kommunikation. Jedoch besteht die Welt aus mehr als nur Kommunikation. Die Welt ist Gestaltung, sowohl äusserliche als auch innerliche – wobei es wohl besser wäre, von Welten im Plural zu sprechen. Hierzu wird Produktion, Vermittlung und selbst Rezeption inklusive Wahrnehmung axiomatisch als Gestaltung begriffen.
Um diese Lücke zu schliessen, ist ein synthetisches Konzept erforderlich, das eine umfassende Formel für die Forschung und Gestaltungspraxis verschiedenster Disziplinen und Bereiche bietet und aus der nach Möglichkeit auch ein pädagogisches Konzept abgeleitet werden kann. Es besteht der Bedarf an einer Formel, die sich nicht nur auf die Kommunikation konzentriert, sondern sich insgesamt der äusseren und inneren Gestaltung widmet.

Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Paul Gauguin, 1897-1898, Museum of Fine Arts, Boston – in der Komposition von rechts nach links zu lesen (gemeinfrei via wm)
Was sind wir?
Die Frage, wie wir uns heute durch eine Formel mündig gestalten können, um selbstbestimmt zu rezipieren, zu produzieren und zu vermitteln und uns dabei lustvoll und zugleich kritisch der äusseren und inneren kulturellen und persönlichen Teilhabe zu stellen, ist eine Herausforderung. Es ist keine Option, sich aus Vorsicht vor den multikomplexen, pluralen und divergierenden Kulturgüter zurückzuhalten und daher von einem ganzheitlichen Konzept Abstand zu halten. Es ist klar, dass diese Formel – wie auch immer sie aussehen mag – dynamisch sein und sich angesichts verschiedenster Gegebenheiten, Anforderungen und neuer Erkenntnisse standhalten muss. Daher drängt sich als Formel eher eine Frage als ein abschliessendes Konzept auf.
Ein erster Schritt in diese Richtung wurde bereits von Lasswell vorgenommen. Seine Formel bietet eine gute Ausgangslage und fordert geradezu eine Erweiterung und Differenzierung. Zunächst muss daraus jedoch die Kommunikation im Sinne der allgemeinen Gestaltung erweitert werden, was über das solitäre Axiom einer Botschaft sowie die implizite Maxime von Übertragung und Feedback als einzig erfolgreichen Akt hinausgeht. Mit diesen Prämissen ist die Lasswell-Formel ein geeigneter Ausgangspunkt.
Lasswells Formel lautet: „Who says what in which channel to whom with what effect?“ Daraus lässt sich ein erster Prototyp für eine Gestaltungsfrage ableiten: Wer gestaltet was über welchen Kanal für wen mit welcher Wirkung? Diese rudimentäre Gestaltungsfrage lässt sich nun mit weiteren Feldern und Dimensionen erweitern und verallgemeinern, wie nachfolgend mit den Strukturen aus dem Referenzrahmen für Kunst und Design (ADM). Daraus abgeleitet könnte die neue Gestaltungsfrage folgendermassen lauten: Wer gestaltet was womit für wen mit welcher Wirkung und dann noch wie wann wo warum und wozu? Mit einer sorgfältigen Neuanordnung erhalten wir eine ausgewogene Grundformel der ganzheitlichen Gestaltungsfrage mit elf W-Fragepronomen:
Wer gestaltet im Auftrag von wem für wen wann und wo – was womit und wie – warum wozu und mit welcher Wirkung? Oder verkürzt: Wer gestaltet was und warum?
Die Grundformel lässt sich in Fragebereiche aufschlüsseln, die verschiedene Teildisziplinen der Forschung und Gestaltungspraxis widerspiegeln:
- Wer gestaltet im Auftrag von wem für wen? Dies bezieht sich auf die Akteure aller Art.
- Wann und wo? Dies auf den zeitlichen, historischen, räumlichen und kulturellen Kontext.
- Was? Dies bezieht sich auf den Inhalt, d.h. auf das Denotat, das Konnotat etc.
- Womit? Dies auf das Medium, das Material sowie die formalen Grundelemente.
- Wie? Dies bezieht sich auf die Anordnung der Elemente, das Konzept und das Vorgehen.
- Warum und wozu? Dies bezieht sich auf die Ursache und den Zweck bzw. die Funktion.
- Mit welcher Wirkung? Dies bezieht sich auf die direkte psychische und physische Wirkung, sowie auf die kulturelle, soziale, wirtschaftliche und ökologische Auswirkung.
Wohin gehen wir?
Es lässt sich nicht leugnen, dass die Grundformel der Gestaltungsfrage in ihrer vollen Länge unangenehm komplex und algorithmisch anmutet. Die Komplexität würde sich noch verstärken, wenn das „Wer“, „Wem“ und „Wen“ im Sinne von Latours Akteur-Netzwerk-Theorie durch ein „Was“ ergänzt werden würde. Aber dies würde die Gestaltungsfrage formal noch unzugänglicher machen. Der Einfachheit halber bleiben die Personalpronomen beibehalten, beziehen jedoch Latours Hybrid- oder Quasiobjekte ein. Trotz ihrer technischen und dichten Erscheinung, eignet sich die Grundformel nicht nur für die systematische Programmierung, sondern auch für den Alltag in der Gestaltungspraxis, Forschung und Pädagogik – insbesondere deshalb, da sie flexibel, modular und skalierbar eingesetzt werden kann.
So lässt sich die Gestaltungsfrage flexibel anordnen und betonen, je nachdem, welcher Aspekt im Vordergrund stehen soll. Zum Beispiel zur gestaltungsorientierten Nutzung: Wer gestaltet was, wie, womit […]? Oder kulturhistorisch: Wann und wo gestaltet wer […]? Oder soziologisch: Wer gestaltet warum, wozu, im Auftrag von wem, für wen […]? Diese flexible Betonungen ermöglichen es, die Frage aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und unterschiedliche Aspekte der Gestaltung hervorzuheben.
Die Gestaltungsfrage lässt sich jedoch auch modular einsetzen. So kann sie beispielsweise einen gestalterischen Akt ohne gedachten Sender oder auch ohne Adressat abbilden, etwa eine intime Kontemplation oder eine unvoreingenommene Äusserung. Dies kann durch das Weglassen bzw. Zusammenstellen von Frageaspekten erreicht werden, indem das eine oder andere mit Null beantwortet wird. So kann die Formel wie ein modularer Bausatz verwendet werden: Wer gestaltet wie [seine Wahrnehmung]? Wer gestaltet wo und wann [seinen Ausdruck]? Auf diese Weise wird die Formel ganzheitlich gerecht.
Des Weiteren ist die Gestaltungsfrage auch skalierbar, was sie z.B. für den didaktischen Einsatz im Kunstunterricht attraktiv macht. Hierzu könnte die Gestaltungsfrage zur Entwicklung von Kompetenzen mit spiralförmig Aufbau eingesetzt und skaliert werden. Der folgende Vorschlag ist weder als absolute noch als endgültige Lösung zu verstehen, sondern dient eher als Anregung zur Diskussion. Er darf selbstverständlich auch nicht mit einem entwicklungspsychologischen Forschungsinteresse an der Morphologie von Kinderzeichnungen verwechselt werden, bei dem z.B. das „Warum“ oder „Womit“ einen anderen Fokus hat. Ein erster Entwurf der skalierten Gestaltungsfrage für ein kunstpädagogisches Kompetenzmodell könnte demnach wie folgt aussehen:
- Frühe Kindheit: Wer gestaltet was?
- Kindheit: Wer gestaltet was, womit und wie?
- Frühe Adoleszenz: Wer gestaltet was, womit und wie, mit welcher Wirkung?
- Mittlere Adoleszenz: Wer gestaltet was, womit und wie, mit welcher Wirkung, wann wo?
- Späte Adoleszenz (bzw. angestrebte Mündigkeit): Wer gestaltet was, womit und wie, mit welcher Wirkung, wann wo, im Auftrag von wem für wen warum und wozu?
Abschliessend lässt sich festhalten, dass die Gestaltungsfrage in ihrer vollen Länge und Komplexität zunächst herausfordernd erscheinen mag. Es könnte der Eindruck entstehen, dass sie dadurch an Pragmatik, Anwendbarkeit und Relevanz einbüsst. Doch dies ist jedoch nicht der Fall – im Gegenteil. Je nach Thema lässt sich die Formel modular einsetzen und flexibel skalieren. Die Formel ermutigt die Akteure der Gestaltungspraxis, Forschung und Pädagogik dazu, lustvoll und zugleich kritisch zu gestalten. Sie regt dazu an, sich immer wieder Fragen zu stellen wie: Wie ist meine Gestaltung? Welche blinden Flecken sind in meinem Forschungsprojekt ok? Welche Formel bringt unsere Lernenden weiter? Je nach Thema und Situation kann die Formel so pragmatisch auf eine kurze Frage adaptiert werden. Und falls dies schliesslich zu beschwerlich ist, kann die Frage, wie zuvor dargestellt, so weit reduziert werden, dass sie nach wie vor den Kern der Sache kompakt erfasst: Wer gestaltet was und warum?
Sequel: Die Antwort lautet 42. Wir danken Deep Thought und der noch nicht kultivierten Göttin der Mündigkeit.