Erweiterung der Farbfunktionen zu Darstellungsfunktionen

Darstellungsfunktionen der gestalterischen Mittel und Konzepte: Welche Funktion hat diese Farbe im Bild? Wie hätte man diese Textur auch noch einsetzen können? Unter welcher Funktion steht diese Formgebung? Wie soll die Lichtgebung beim Fotografieren eingesetzt werden? Welche Funktion trägt dieser Bildraum?

Ausgangslage

Die zur Gestaltungspraxis und Bildanalyse hilfreiche und gängige Theorie der Farbfunktionen ist in verschiedensten Lehrmitteln präsent und überall etwa ähnlich formuliert. Sie unterscheidet meistens die Erscheinungsfarbe (Volumenfarbe), Lokalfarbe, Gegenstandsfarbe, Symbolfarbe, Wirkfarbe (Ausdrucksfarbe) und absolute Farbe. Bei einer Überprüfung und Erweiterung dieser Darstellungsfunktionen entsteht ein Theoriekonzept, das überraschend einfach auf andere Aspekte angewendet werden kann. So können nicht nur die Farbfunktionen sondern auch die Darstellungsfunktionen anderer gestalterischer Mittel wie unter anderem von Form, Textur, Perspektive, Licht, Komposition, Dramaturgie etc. reflektiert oder sogar Bezüge zu Designmaximen hergestellt werden. Bei dem neuen Theoriekonzept der Darstellungsfunktion fällt eine Überschneidungen mit der in der Sprachtheorie bekannten Sprachfunktion Karl Bühlers auf. Das entstandene Theoriekonzept versucht aber die Darstellungsfunktionen der gestallterischen Mittel von den gestalterischen Absichten zu lösen (siehe hierzu die gestalterischen Absichten), indem die Darstellungsfunktion auf den Wert eines gestalterischen Mittels und nicht auf das Ziel des gestalterischen Produkts eingeht, wenn auch diese unmittelbar miteinander verstrickt sind. So kann nicht zuletzt in einem fertigen gestalterischen Produkt durch eine Analyse der Darstellungsfunktion der gestalterischen Mittel die gestalterische Absicht eruiert werden.

Nachahmung, Bezeichnung, Wirkung, Unterstützung, Absolut

Daraus ergeben sich fünf Darstellungsfunktionen, von denen die Mimesis (1), Bezeichnung (2) und Wirkung (3) die Offensichtlichsten sind (siehe Beispiele weiter unten). Die Mimesisfunktion dient der Nachahmung der sinnlichen Wirklichkeit. Die gestalterischen Mittel werden möglichst wirklichkeitsnahe eingesetzt. In der Bezeichnungsfunktion erfährt der informative Anteil Vorrang. Hier werden die Bildnerischen Mittel zur Bezeichnung der ideellen Gegenstandswelt verwendet. Und in der Wirkfunktion werden die gestalterischen Mittel zur psychologischen oder physiologischen Wirkung auf den Rezipienten eingesetzt, wobei Ausdrucksstärke gefragt ist. Eine weitere Funktion ist die Hilfsfunktion (4), welche die Produktion bzw. Rezeption unterstützen mag, wie es z.B. die Untermalung in der Ölmalerei, das Grundlicht in der Fotografie oder die Vernetzungslinien beim figürlich Zeichnen sein können. Omnipräsent ist die absolute Funktion (5). Bei dieser Funktion der Selbstreferenzialität ist Farbe als Farbe zu verstehen, und auch die Textur stellt nur sich selbst dar. Spätestens bei dieser Funktion wird klar, dass ein gestalterisches Mittel mehrere Funktionen einnehmen kann. Allerdings ist davon meist eine Darstellungsfunktion besonders ausgeprägt.

  1. Mimesisfunktion -> wirklichkeitsnah
  2. Bezeichnungsfunktion -> informativ
  3. Wirkfunktion -> ausdrucksstark
  4. Hilfsfunktion -> unterstützend
  5. absolute Funktion -> selbstreferenziell

Beispiele für die ersten drei Funktionen

    1) Mimesisfunktion   2) Bezeichnungsfunktion   3) Wirkfunktion/ Ausdruck
Farbe Materialfarbe (sozusagen die gescannte Farbe)

Lokalfarbe (Materialfarbe mit lokaler Lichtgebung)

Erscheinungsfarbe (Materialfarbe bzw. Lokalfarbe in atmosphärischer Adaption)

Raumfarbe (ohne Materialbezug gewählte Farbe, die den Raum modellieren, etwa mit Hell-Dunkel oder Kalt-Warm)

Gegenstandsfarbe (stilisierte Materialfarbe zur Identifikation eines Gegenstands, z.B. kann Rot einen Apfel denotieren)

Symbolfarbe (symbolisch geprägte Farbe, z.B. kann Rot in der westlichen Welt im 20. Jh. den Kommunismus konnotieren)

Trennfarbe (zur Trennung von Flächen, auch mit Bildlegende)

Physiologische Wirk-/ Ausdrucksfarbe (Farbe zur physiologischen Einwirkung z.B. verstärkt ein Violett mit dem Effekt des Simultankontrasts eine naheliegende gelbe Fläche)

Psychologische Wirkfarbe (Farbe zur psychischen Beeinträchtigung z.B. kühlt und erweitert eine blaue Fläche den Raum)

Textur Materialtextur (die immitierte Materialoberfläche)

Lokaltextur (Materialtextur mit lokaler Verzerrung)

Erscheinungstextur (Variation der Materialtextur um Distanz zu erzeugen)

Raumtextur (ohne Materialbezug gewählte Textur, die den Raum modelliert)

Gegenstandstextur (stilisierte Materialoberfläche zur Identifikation des Gegenstandes)

Symboltextur (die Textur beinhaltet Elemente, die über das Denotat auf ein Konnotat verweist)

Trenntextur (Flächen trennen, Bildlegende)

Physiologische Wirktextur (Textur erzeugt Irritation wie z.B. mit Nachbilder)

Psychologische Wirktextur (Textur verzerrt den Bildraum oder erzeugt sinnliche Erlebnisse wie rau, warm, leicht, windig…)

Lichtgebung bei der Fotografie Natürliche Lichtgebung vor Ort (z.B. mit avialable light photography) Objektive Lichtgebeung (z.B. gute Ausleuchtung, um möglichst viele Informationen zu erfassen) Subjektive emotionalisierende Lichtgebung (z.B. extreme Lichtsituation wie Gegenlicht um eine Figur auratisch wirken zu lassen)
Bildnerische Raumkonzepte
Monovalent: Figur am Horizont, Fluchtpunkt-, Farbperspektive

Polyvalent: visuelle Simultanperspektive, Chronophotographie

z.B. Parallelprojektion, Risse, Militärperspektive, ideelle Simultanperspektive, Bedeutungsperspektive und auch Schemen, Graphen- oder Diagrammräume z.B. expressive Raummanipulationen durch verzerren des Bildraumes im Expressionismus aber auch Vexierbilder, Kippbilder
Designmaximen in Produktdesign, Architektur form follows nature (Natur als Vorbild, Inspiration) form follows function, form follows content, form follows culture (auch Subkultur, Milieu) form follows emotion oder vielleicht auch form follows fantasy

 

11 Gedanken zu „Erweiterung der Farbfunktionen zu Darstellungsfunktionen

  1. M. Stern

    Ich frage mich gerade, wie sich die Darstellungsfunktionen zum Thema „Komposition“ manifestieren? Für die Mimesisfunktion stelle ich mir einen Zufallsauschnitt vor. Für die Wirkfunktion z.B. oben leicht, unten schwer. Was ist aber mit Bezeichnungsfunktion?

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    1. Thomas Schatz Beitragsautor

      Guter Gedanke mit nachvollziehbaren Beispielen.

      Zur Bezeichnungsfunktion zählt etwa die Dreieckskomposition in der Renaissance, die auf die Dreifaltigkeit verweist. Oder früher z.B. in einem Mosaikbild von San Vitale (Ravenna), in dem die Kaiserin Theodora im Verhältnis zu ihrem Gefolge leicht aus der Isokephalie mit ihrem Kopf nach oben heruasbricht.

      Meister von San Vitale in Ravenna 006.jpg
      Meister von San Vitale in Ravenna 006“ von Meister von San Vitale in Ravenna – The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH.. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons.

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    2. Julia

      Eine aufsteigende Schräge z.B. kann als Hoffnung gedeutet werden. Eine Kreiskomposition als Vollkommenheit. Die Dreieckskomposition (gleichseitig) -> Dreifaltigkeit. Da wäre man doch bei der Bezeichnungsfunktion, oder? Caspar David Friedrich greift zum Beispiel auf den Kreis zurück. Da Vinci auf die Dreieckskomposition, auch mit entsprechenden Bedeutungsgehalten.

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  2. Rsch

    Lassen sich diese verschiedenen Farbfunktionen auch auch die stielepochen der kunstgeschichte aufteilen?
    Aso wurde z.B im impressionismus überwiegend mit lokalfarbe gemalt oder kann man das so nicht zuteilen?

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    1. Thomas Schatz Beitragsautor

      Ja genau! In jeder neuen Epoche bzw. Strömungen gab es Verschiebungen in den verschiedenen Darstellungsfunktionen (nicht nur in der Farbe), welche einem Paradigmawechsel gleich kommt, der die Epoche bzw. Strömung per se erst definiert. Der Impressionismus konzentrierte sich im Bereich der Farbe besonders auf die Erscheinungsfarbe. Im Grösseren liesse sich sogar sagen, dass im Impressionismus die Bezeichnungsfunktion zugunsten der Mimesisfunktion zurückwich, bis dann die Wirkfunktion fortzu an Wichtigkeit gewann und damit die Grundlage für die klassische Moderne lieferte.

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    1. Thomas Schatz Beitragsautor

      Jede Farbe und Farbkombination hat seine Geschichte, die durch eine jeweilige Kultur geprägt ist. Insbesondere die Symbolfarbe lässt sich leicht in seiner Geschichte rekonstruieren, da diese – vielleicht wegen des kognitiven Charakters – oft aus schriftlichen Quellen oder aus dem Bildkontext heraus zu erschliessen ist. So trägt z.B. die Farbkombination des Regenbogens je nach Kultur bzw. Subkultur (räumlich und zeitlich bedingt) verschiedene Symbole.

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